Der Goldene Schnitt – und seine Nebenwirkungen



#DAYONE RE-CAPTURED /// COLD CASES

Verbrechen auf Wiedervorlage – oder die alltäglichen Gedanken zu einem vor 16 Jahren verstorbenen Bruder.


#RABBITHOLE

Ein Verbrechen an einem Kind begleitet die Ermittler oft ihr Leben lang – insbesondere, falls es unaufgeklärt bleibt. Gefangen in ihrem sprichwörtlichen Rabbit Hole, das die Fahnder zu ewigen Dienern ihrer Verfehlung macht, ploppen so Fälle wie der von Madeleine Beth McCann (seit 2007 und ihrem dritten Lebensjahr verschollen) oder Adelina Pismak (2001 im Alter von zehn Jahren getötet) medial immer wieder auf, sobald es gilt, neue Gewalttaten aufzuklären.

Immer wieder sind diese Gedanken auch an einen Bruder gekoppelt. Simon, kurz „Sy“. Im Alter von 21 Jahren kollidierte er – vor 16 Jahren auf der Bundesstraße 61 – mit einem Straßenbaum. Mit Todesfolge. Bis heute ein (persönlicher) Cold Case. Insbesondere, wenn irgendwo irgendwer die Frage nach Dingen wie dem Warum, dem Ursprung eines Gedankens oder einer Quelle stellt.


#COLDCASES – 3 BEISPIELE 

MARIA R. | Als der „coldest case in history“ gilt der Fall Maria Elizabeth Ridulph – ein Mädchen aus Sycamore (Illinois/USA). Geboren am 12. März 1950. Verschwunden im Jahr, in dem Russland mit Sputnik 1 den Beginn der Raumfahrt feierte. Am 3. Dezember 1957 ver­schwand die Siebenjährige, fünf Monate spä­ter fand ein Pilze sammelndes Paar den Körper in einem Waldgebiet nahe Woodbine, rund 140 Kilometer entfernt von Sycamore. Die Er­mittler identifizierten sie mithilfe von Zahn­ und Haaranalysen sowie ihrer Kleidung. Die Autopsie ergab keinerlei Todesursache – 50 Jahre später jedoch stellte die Forensik fest, dass Maria Ridulph wohl mehrere Male in den Hals gestochen wurde. 2012 startete der Prozess gegen den Hauptverdächtigen, 2017 erklärte das Gericht diesen für unschuldig.

ADELINA P. | Der bekannteste „cold case“ Deutschlands ist der Fall Adelina Pismak – ein Mädchen aus Bremen. Letztmals gesehen am 28. Juni 2001, fand eine Pilzsammlerin ihren Körper gut drei Monate später im Waldgebiet Leester Marsch, verpackt in einen Müllsack. Verschleppt, vergewaltigt, getötet, verscharrt – das stellte die Gerichtsmedizin an Adelinas elftem Geburtstag zweifelsfrei fest. Von einem Täter fehlt bis heute jede Spur. Randnotiz: Der damals Haupt­verdächtige, Marc Hoffmann (für zwei andere Kindstötungen inhaftiert), hat es medial zu Aufmerksamkeit gebracht. Sein Lookalike und Namensvetter, Schauspieler Rick Hoffman, ist insbesondere bekannt als schrulliger Wirtschaftsprüfer und -anwalt Louis Litt aus der Serie „Suits“ mit Prinzessin Meghan Markle.

SIMON W. | 2007 zeigte Simon Winkler, der besagte Bruder, auf der Bundesstraße 61 (eine Nord-Süd-Verbindung­ von Bremen nach Ost-Westfalen) die Probleme auf, die Bob Dylan auf seinem 1965er­-Album „Highway Revisited 61“ thematisiert: die ständige Reduktion auf Ur­sprünge und „das erste Mal“. Am 44. Ge­burtstag seines Idols Johnny Depp (9. Juni) fuhr der 21-­Jährige auf der Batenhorster Land­straße gegen einen Straßenbaum – mit Todes­folge. Bis heute ist unklar, ob es Selbstmord oder Sekundenschlaf, Absicht oder ein Unfall war.


#COLDCASE – WAS IST DAS?

Als Cold Case gelten unaufgeklärte Verbrechen, die regelmäßig re-captured werden. Ausschlaggebend für diese Wiederaufnahme des Verfahrens und neu aufgerollte Ermittlungen sind zumeist vergleichbare Fälle („Amtshilfe“) oder verbesserte kriminaltechnische Methoden („Test Flights“), zuweilen veränderte Lebensumstände von Beteiligten wie Zeugen.

Mordkommission und Staats­anwaltschaft Bremen definieren einen Cold Case wie folgt: Dem Ermittlungs­verfahren liegt ein Kapitaldelikt (Gerichts­verfassungsgesetz Paragraf 74, Absatz 2) oder ein Vermisstenfall zugrunde – nicht oder nicht vollständig aufgeklärt, obgleich das Verfahren ohne oder mit angefochtenem Urteil eingestellt ist.


#HIGHWAY61 – DER GOLDENE SCHNITT

Einskommasechseinsacht, in Ziffern 1,618: Das ist der Goldene Schnitt – der Faktor, der in der Mathematik über alles entscheidet. Über die einzig wahre Schönheit, über die ausgewogene Balance, über die Konzentration auf den Punkt. Kurzum, über Ursprünge und über das, was das Bewusste oder Unbewusste in den Fokus nimmt. Kriminologen nutzen die Zahl, um sich auf die Suche nach Indizien zu machen, diese auf Stichhaltigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls den Täter unter einer Vielzahl Verdächtiger zu finden.

„Die Menschheit ist kaum weit genug entwickelt, um über existenzielle Dinge nachzudenken“, sagt Elon Musk, der mit Tesla, Neuralink und Twitter/X Straße, Körper, Geist und soziale Netzwerke erobert. „Wir denken lieber über Dinge nach, die uns sehr nahe sind – und das äußerst kurzfristig“, fügt er hinzu.

Warum also denken Menschen bei der Zahl 1,618 so gern über ihr erstes Mal mit der Liebe ihres Lebens nach – und über die Vorzüge, welche die Volljährigkeit mit 18 mit sich bringt oder gebracht hat? 

Letztlich gehe es darum, mit Mitmenschen „upset“ zu sein. Sich gegenseitig aus dem Konzept (oder gegeneinander auf) zu bringen, sich zu verunsichern, die Schwächen zu testen – und gestärkt aus dem Clinch hervorzugehen. Dass das die Menschheit insgesamt beschädige bis zerstöre, das sei nahezu allen fremd.

Insbesondere im jungen Alter Vergewaltigte – oder mit einem Verbrechen Konfrontierte – stellt die Reduktion auf den Goldenen Schnitt immer wieder vor ein kaum endendes Trauma. Es fängt sie – wie Verwandte, Freunde und oft auch die Ermittler – in ihrem Kaninchenbau, ihrem Panic oder Escape Room. Oft ohne jederlei Entlass.

Den dazugehörigen Ursprung datiert die Literatur auf Lewis Carroll’s 1865 erschienenes „Alice‘s Adventures in Wonderland”. Direkt zu Beginn fällt die Protagonistin ins besagte Loch. Ein weißes Kaninchen verfolgend, entdeckt sie eine surreale Welt (das vermeintliche Erwachsenen- oder Spermiendasein), in der Nullkommanix mehr Sinn macht.

Gewissermaßen vom Stockholm-Syndrom gepackt, entwickelt sich eine liebesartige Beziehung zu ihrem Ent- beziehungsweise Fremdenführer. Die Surrealität geht soweit, dass letztlich niemandem mehr zu trauen ist. Alice schaut sprichwörtlich durch alles und jeden hindurch – und ist voll und ganz auf sich allein gestellt.

Soziologen und Biologen nennen die einzige verbleibende Überlebensstrategie „autopoesis“ – der totale, unumstößliche Selbstbezug. Antworten, die man nicht in sich selbst findet, existieren nicht. Die Wirklichkeit, so formuliert es Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick, ist erfunden. Jeder hat eine – oder gar viele.

Auch in Gesundheit und Medizin, im Ausmachen von Symptomen beziehungsweise Ursachen, spielt das erste Mal eine entscheidende Rolle. Schauspieler Johnny Depp etwa soll im Alter von zwölf Jahren angefangen haben, zu rauchen. Atemnot, Unfruchtbarkeit, Impotenz, verklebte Lungenhärchen oder Tumore in Kehlkopf und Mund: Die Kampagnen um Verzicht, Genuss und die Folgen von Tabak zielen daher oftmals „voll auf die Zwölf“.

Dieser Tage zum Beispiel die Werbung einer neuen Elektro-Zahnbürste. Einmal im Uhrzeigersinn über jeden Zahn, einmal im Rund durch den Mund.

Spätestens seit dem iPhone und damit seit 2007 führt die alltägliche Safari des Marketing- und Werbewunderlands (fachsprachlich: Customer Journey, Microtargeting und Performance Marketing) auf alltägliche Schnitzeljagden um Schönheit, Freundschaft, Liebe oder Kaufgelüste.

Angespitzt durch (die neuesten) Werbekampagnen, Serien- oder Filmproduktionen kommt es immer wieder zu Fällen der Hollywood-Conversion: die Nachahmer-Effekte (oder auch real-life phenomenons), die sich in kleinen wie großen True Crimes – Verbrechen des Alltags – äußern, zuweilen Aufmerksamkeit der Ermittler, Medien und Bevölkerung finden.


#X

Warum wurde im Juni 2021 in Bremen-Nord noch mal ein 21-Jähriger mit einem Nothammer attackiert?

Bremen eröffnete damals die erste Frauenmilchbank, der Senat stand im Verdacht, falsche Vaterschaften für Sozialleistungen zu tolerieren. Zudem war die Zeit der Diskussion um das US-Gesetz „Tobacco 21“ – Rauchen ab 21 (in Deutschland gilt seit 2007: 18 statt 16 Jahre). Der Bremer Bahnhof-Boulevard war seinerzeit medial für „Hitler-Horror“ und „Kehlschnitt-Wahnsinn“ verschrien.

Vermeintlich also so etwas wie Grüße an Johnny Depp’s mörderischen Barbier „Sweeney Todd“. Aus 2007. Wie das iPhone und das deutsche Rauchergesetz.

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