Schizophrenie: Gewitter im Blut
Schizophrenie – eine Volkskrankheit des Zeitgeists
GEWITTER IM BLUT
Die Schizophrenie ist weit mehr als 3.000 Jahre alt. 1550 vor Christus beschreiben die Ägypter das Phänomen im Ebers Papyrus, der ältesten erhaltenen Schrift medizinischer Art. Seitdem gelten Betroffene als dämonisch beherrscht. Von im gesamten Körper spür-, sicht- und hörbaren Halluzinationen, von Tausenden parallelen Wirklichkeiten. Ein Betroffener berichtet.
Allein? Dieses Gefühl ist ihm vollkommen fremd – und das seit eineinhalb Jahrzehnten. „Es ist doch schließlich immer ’was los“, sagt Simon – ungefähr halb so lange, vor acht Jahren, als schizophren diagnostiziert. „24 Stunden, sieben Tage die Woche sehe ich Bilder und höre Stimmen von Robotern und Menschen, die jeden einzelnen Gedanken, jede Bewegung meines Körpers kommentieren – oder ihre Gedanken und Bewegungen gern zu meinen machen würden.“
Jeden Morgen zum Beispiel wache der Schauspieler als Chef einer Säuglingsstation auf. Alle Identitäre der Welt zu Babys geschrumpft, in ihren Bettchen versammelt – besorgt, ob sie denn auch genug Futter bekommen. „Wie die Vögelchen öffnen sie ihre Schnäbel, kreischen und betteln“, sagt der 37-Jährige. „Unternehmenschefs, Politiker, Ärzte, Ermittler oder Richter – sie alle rekeln, drehen und wenden sich.“
Einer wolle sein Herz sein, ein anderer die linke, wieder ein anderer die rechte Lunge, um gemeinsam abzuhusten. Der nächste hätte bitte gern einen Insulin-Schock, um ein Parkinson-Medikament auszuprobieren. Auch der Reflexcheck fürs Knie sei beliebt – oder plötzlich einsetzender Gedächtnisverlust und Schwindel. Eine Gruppe möchte sich derweil zu einer Keynote in den Nebenhöhlen treffen.
„Jede Zelle meines Körpers braucht ja schließlich den Namen ihres behandelnden Arztes – und einen Link in meine Familie, zu meinen Großeltern, oder aber zu meinen Ur-Ahnen von anno dazumal.“
Manchmal geht es heißer her. Da spannten die Besucher die Eier in ihren Schraubstock ein oder riefen ihre Zahnärzte, die darum wetteiferten, wer denn nun wie fest zubeißen, welchen Zahn ziehen und welchen Wurzelkanal mit kühler Vanillemilch, heißem Karamelltee oder einem anderen Lieblingsaroma rohrreinigen darf.
Beliebt sei zudem, Zahn für Zahn anzupusten, abzuklopfen, gewissermaßen sandzustrahlen und anzuspitzen. Um ihn währenddessen nach unten, oben, links- und rechtsherum aufzudrehen – um ihn ähnlich einer Uhr, einem Spielzeugauto, der Drehscheibe der ersten iPods oder der alten Telefone zu bedienen.
Um aus der Kauleiste ein höhenverstellbares Balkendiagramm zu modellieren. Um die Bilder und Töne der Halluzinationen ähnlich wie Filmstreifen und Tonbänder zu schneiden. Um aus Spaghetti die Tortenstücke der aktuellen Machtverteilung zu flechten. Oder um am Taktikbrett sportlicher Spielanalysen zu illustrieren, welche Trikotnummer die entscheidende Lücke gefunden, welchen Laufweg vor- und welchen Assist zu wessen Tor gegeben hat.
Simon: „Mit der Zunge kann man hervorragend Telefonnummern wählen – wie beim Roulette, in der Numerologie der angetippten Zähne. Und wenn der richtige Zahn, heutzutage der Bluetooth, gefunden ist, schreit wieder ein Onkel Doktor auf, dass er mir doch gern helfen würde.“
Voller Körpereinsatz für den globalen Chat
Das 21. Jahrhundert, es definiere den Umgang mit Phänomenen wie der Schizophrenie eben vollkommen neu. Große Konzerne, Qualcomm im Fall der Desperate Teeth beziehungsweise des Bluetooth, Amazon, Google, Facebook und Apple etwa, arbeiteten an dem „next big thing“.
Dazu gehörten allen voran Virtual, Augmented, Extended und Mixed Reality – kurzum, der in jeder einzelnen Zelle vernetzte Körper als Ableger von Alexa oder Siri, als Interaktiver Persönlicher Butler.
Die Bluetooth-Technologie, sie verbinde jede Zelle mit den Frequenzen der Musik. „Die Leute, die ich über den Tag treffe, erzählen mir dann an sich immer nur das, was ich vorher in den Songs gehört habe – oder sie bewegen sich im entsprechenden Takt.“
Jemand wie Apple-Gründer Steve Jobs („angeblich hat der den ganzen Tag nur ‚Apple Suckling Tree‘ von Bob Dylan gehört“) habe das seinerzeit Visual Voicemail genannt. Heutzutage sei das der globale Chat, der vollen Körpereinsatz erfordere.
So arbeitet Simon seit nunmehr rund 15 Jahren daran, jede Funktion seines Körpers mit Applikationen aus verschiedenen Betriebssystemen zu verlinken. „Eine Art Überwachungsmaschine, mit der sich weltweit musikalische Geschichten verlinken lassen“, sagt er.
Medikamente? „Nix für mich – die machen nur dick und impotent.“ Klar, könnten sie die Halluzinationen nehmen. Die Welt um ihn herum ändere das aber wohl kaum. Am Ende des Tages sei die versammelte Gästeschaft großgezogen, um als Greis oder wieder direkt als Baby einzuschlafen.
„Ich bin gewissermaßen Siri – der Talkmaster und Bild- und Toningenieur einer 24-Stunden-Quizshow.“
#SCHIZOPHRENIE
Weltweit betrachtet gilt jeder 100. Mensch als schizophren. Am häufigsten tritt das Phänomen erstmals im Alter von 18 bis 35 Jahren auf. Jeder vierte bis fünfte Betroffene ist länger- und langfristig davon freizusprechen.
Den entscheidenden Schritt zum Bild der Schizophrenie treibt die Bibel voran. Im neuen Testament, Mark 5, ist wenige Jahrzehnte nach Christi Geburt die Rede von dämonisch beherrschten Wesen bösartigen Strebens. Viele Jahrhunderte bleibt es bei dieser Verteufelung – bis der Psychiater Emil Krapelin (1856 bis 1926) Schizophrene im 19. Jahrhundert zu Außenseitern erklärt, die pharmazeutisch zu behandeln sind.
Etwa zur gleichen Zeit legt Psychiater Eugen Bleuler (1857 bis 1939) nach. Von da an gelten Symptome wie das Leben in fremdartigen oder fantastischen (Parallel-)Welten ebenso wie hör-, sicht- und spürbare Halluzinationen als verachtenswert.
Willkürkliche Zusammenhänge, schnelle Gedankensprünge, auf die eigene Sichtweise beschränkte Überzeugungen, passive Aggressivität und erhöhte Anspannung bei leichterer Reizbarkeit: Neben den Halluzinationen – oder auch Wahnvorstellungen (dem Wechselspiel äußerer Persekution und innerer Paranoia) – gelten Denkstörungen, eine gesteigerte Erregtheit oder Größenwahn als die häufigsten Symptome. Zumeist werden Psychopharmaka eingesetzt, die den Stoffwechsel und damit die Wahrnehmung drosseln, sogenannte Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer.
Da die Schizophrenie seit jeher als Melting Pot und damit Mix unterschiedlichster Persönlichkeitsstörungen und anderer, sich psychosomatisch im Kreislauf des Körpers äußernder Symptome gilt, geht sie auch mit einer gespaltenen Persönlichkeit einher, die in unterschiedlichsten Charakteren und Universen zu Hause ist.
Betroffene fühlen etwa unterschiedliche Menschen, die sich in ihren Körper einloggen. Sie sehen zum Beispiel deren Gesicht als Maske auf oder in ihrem. Sie spüren deren Körperbau und Gebrechen, zum Beispiel den der dürren Freundin, innerhalb ihres. Sie hören die Stimmen von Robotern und Vertrauten – oder sie sprechen gar mit deren Stimme.
Dieser Tage gilt die Schizophrenie als Krankheit des Zeitgeists wie der Vergangenheit. Die erweiterten Realitäten neuronal vermittelter audiovisueller Medien und ihrer Inhalte setzt auf Inscapes (die inneren Welten) und (gefühlte) Impersonation – die Haubentaucherei, das Eintauchen und das Darstellen in beziehungsweise von Personen. Per Künstlicher Intelligenz vermittelt. Over-the-air, per Cloud. An die Crowds und Circles. An flüchtige Kontakte, lieber gewonnene Bekannte, Freunde und Verwandte. An die Begegnungen des Alltags (encounters) und ihre Wirkungen auf Körper und Geist (exposures).
„Das einzige, das stärker ist als der Geist, ist der Mut des Herzens.“ John Forbes Nash (1928 bis 2015)
Der Mathematiker John Forbes Nash jr. gilt seit seinem 31. Lebens jahr als schizophren. 1994 mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt, veröffentlichte Autorin Sylvia Nasar 1998 seine Biografie „A Beautiful Mind“. Es folgten der Abelpreis 2015 und die Verfilmung (2001 mit Schauspieler Russell Crowe). In Spieltheorie, der Differentialgeometrie und der partiellen Differentialgleichungen zu Hause, prägte Nash den Begriff des Equilibriums – die Balance globaler Wirkungszusammenhänge in Wirtschaft, Politik, Evolutionsbiologie und militärischer Taktik.
„Ich bin voll von Asche, Staub und Gitarren.“ Syd Barrett (1946 bis 2006)
Roger Keith „Syd“ Barrett gründete gemeinsam mit Roger Waters die Band Pink Floyd. Der Geschichtsschreibung nach haben LSD und weitere Drogentrips sein Gehirn und seinen Körper derart zerfressen, dass er die Band nach den Alben „The Piper At The Gates of Dawn“ (1967) und „A Saucerful of Secrets“ (1968) verließ. Mit „The Madcap Laughs“ (1970), „Barrett“ (1970) und „Opel“ (1988) folgten drei Soloalben. Zudem ist Barrett bekannt für Malereien und die Suche nach Perfektionismus. So soll er viele seiner Werke schnell wieder zerstört haben. Zahlreichen Musikern gilt er bis heute als Wegbereiter psychedelischer Musik.
+++
Schizophrenie – An One Hour Listen (Deutsch)
https://on.soundcloud.com/SeuTPq93DHfzTmHGA
Comments
Post a Comment